In, aus und zwischen Werken von  MB lesen

Tan Lin

Lesen ist ein Akt des Rechnens, somit an sich schon abstrakt, dessen Funktion darin besteht, Bedeutung zu erzeugen. Aber lesen ist zugleich auch eine materialisierte Abstraktion, im Raum komponiert oder ausgeführt von konkreten Akteuren mit konkreten materiellen Dingen, die mit ihrem Gewicht den physikalischen Naturgesetzen unterliegen: rollen, fallen, Falten werfen, abwickeln, schwenken, hängen. Die Ausführung ist wie das Lesen ein Modus der Komposition mit den Gesetzen der Schwerkraft, mit anderen Worten, ein Medium.

In der Videoarbeit schlafen.stehen (2003) führt jemand (es ist Monika selbst) unter der Regie abstrakter Gravitationsgesetze zwei Handlungen aus (Bewegungen sind Kompositionen): stehen und schlafen. Doch die Welt, in der diese beiden ständig wiederkehrenden täglichen Handlungen unseren Tag, wie eine Art Musik, in zwei Hälften teilen, wird (durch ein Seitwärts-Kippen der Videokamera) aus einer horizontalen in eine vertikale Achse gedreht. Die beiden Hälften unseres Lebens machen sich also das sprachlose Medium Video zunutze, um alltägliches Handeln in ein vollkommen anderes Bezugssystem zu versetzen: in ein System zum Lesen des eigenen Standorts in der Welt. Wie Niklas Luhmann es ausgehend von den Arbeiten der chilenischen Biologen Humberto Maturana und Francisco Varela verstand, nehmen wir die Welt wahr, aber wir konstruieren die Welt auch, die wir wahrnehmen. Die Welt der Fotografie oder des Videos wird also aus einer Welt herausgelesen, die vor unseren Augen erschaffen wird. Und umgekehrt wird die Welt eines skulpturalen Objekts aus einer Welt herausgelesen, die als konzeptuelles Bezugssystem in unserem Kopf existiert. Ein Medium ist bloß ein Medium in einem anderen Medium. Und hierin liegt die erstaunliche Frische einer Welt, die in  B’s Arbeit ihren formalen Ausdruck findet wie ein Gedanke, bei dem Gegenstände und Abstraktionen aus einer Reihe einander überschneidender Wahrnehmungsräume bestehen, die ebenso überraschend wie logisch sind.

Monika Brandmeier ist damit eine Architektin, die sich aus den Gegenständen ihres Handwerks ihr eigenes Haus gebaut hat: Sie lenkt die Bewegung des Betrachters, die manch einer Aufmerksamkeit nennen würde, nach innen wie nach außen. Aufmerksamkeit ist ein Medium der Zuneigung. Oder präziser gesagt, sie extrojiziert unsere sequenziellen Leseweisen, von innen nach außen, in eher materialisierte Ebenen, während sie die Materialität simultaner Leseweisen, von außen nach innen, in die abstrakten Ebenen des Verstehens introjiziert. Und das Ergebnis ist Vertrautheit, denn die Welt, die wir bewohnen, ist die Welt, die wir uns selbst geschaffen haben – die horizontalen Ebenen, auf denen wir schlafen, und die vertikalen Ebenen, in die wir dann aufstehen.

Lesen in und lesen aus. Selbstverständlich erzeugen beide Formen des Lesens, genauso wie das Lesen dazwischen, oder das Fallen, eine philosophische Fotografie der Räume, der Türen, Zimmer und Fenster, die unsere Wahrnehmung soeben durchquert hat; so ist, gemäß der formalen, sequenziellen und konstruierten Logik von B’s Arbeit, das Lesen ganz natürlich ein Vorgang beiläufiger Konstruktion, nicht anders als der Bau eines Hauses, Teil für Teil, Scharnier für Scharnier, und selbstverständlich auch Ebene für körperlose Ebene und Linie für körperlose Linie.

In ihren verschiedenen Fotoarbeiten, die im Verhältnis zu den Skulpturen abstrakter geformte und in eine Form, ein Format gesetzte Bestandteile der materiellen Welt sind, benutzt Brandmeier übliche Gegenstände aus dem Bauhandwerk, als hätten diese von Natur aus allegorische Funktionen: Paletten, Türscharniere, Schrauben, Stahlrohre,  MDF, Pappschachteln, Papier, Klebeband, Messingrohre, Krokodilklemmen, Kabel, genauso wie noch gebräuchlichere Haushaltsutensilien: Handtuchhalter, Stoffe, Tische, Stühle, Betten, Decken, Kleiderbügel. Diese Gegenstände sind gekennzeichnet durch eine ähnliche Ambivalenz zwischen dem Vertrauten und dem Nüchtern-Profanen, zwischen den Dingen, die gehalten werden, und den Dingen die fallen dürfen, zwischen dem Alltäglichen und dem Transzendentalen, ohne dass sie ungleichmäßig oder biomorph wären, was es ihnen trotz ihrer messbaren Ausdehnung im Raum erlaubt, als Ebenen oder sogar als Linien zu fungieren. Sie sind Gegenstände und Abstraktionen, und wie Vertrautheit oder sogar Liebe brauchen wir sie dazu, die physische Welt dingfest zu machen und zusammenzuschließen zu der Welt, die wir kennen.